Vor einigen Tagen fand in Berlin die sogenannte Lange Nacht der Wissenschaften (LNDW) statt. Die Veranstaltung an über 60 wissenschaftlichen und wissenschaftsnahen Einrichtungen in Berlin und Potsdam stand unter dem Leitmotiv:
Wissenschaft als Antwort auf Fake News, Verschwörungstheorien und fatale Irrtümer. Denn im Gegensatz zu Fake News behält Wissenschaft die Komplexität und Vielfalt unserer modernen Welt stets im Blick – brandaktuell und wichtiger denn je.
LNDW
Ein Teil der Wissenschaftsnacht sollte der Vortrag „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ der Biologin Marie-Luise Vollbrecht sein. Hierzu sollte es nicht in der angedachten Form kommen. Der dem Referent_innenrat (RefRat, sonst AStA) der Humboldt Uni nahestehende „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ hatte im Vorfeld zu Protesten aufgerufen. Darin wurde der Referentin Trans- und Queerfeindlichkeit vorgeworfen.
https://platform.twitter.com/widgets.js+Demoaufruf+
— akj hu berlin (@akj_berlin) 1. Juli 2022
Geschlossen gegen Trans*feindlichkeit –
Keine Bühne für die Co-Autorin von Statements einer "biologischen Realität der Zweigeschlechtlichkeit" und ""woker" Trans-Ideologie".
An unserer Uni gibt es keinen Platz für Queerfeindlichkeit. Wir sehen uns auf der Straße! pic.twitter.com/Yd6kR6Ka8O
Nach dem Demoaufruf und einen Brief des RefRats an die gesamte Studentenschaft der Humboldt Universität (HU) sah sich die Universität gezwungen die Veranstaltung aus Sicherheitsgründen abzusagen.
Der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes (DHV) deutete die übereilte Absage als einen Bärendienst für die Wissenschaftsfreiheit:
Sie hätte stattdessen Rückgrat beweisen sollen und alles daran setzen müssen, dass der Vortrag stattfinden kann
Bernhard Kempen
Die Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger kritisierte die kritischen „Aktivisten“ ebenso scharf:
Es darf nicht in der Hand von Aktivisten liegen, welche Positionen gehört werden dürfen und welche nicht. … Wissenschaft lebt von Freiheit und Debatte. Das müssen alle aushalten.
Bettina Stark-Watzinger
Der an der HU lehrende Professor Jörg Baberowski, selbst Opfer von Anfeindung und Cancel Culture, sieht die Wissenschaftsfreiheit durch entsprechende Drohungen ebenfalls in Gefahr:
Wenn das Standard wird, dass irgendwelche Gruppen aus welchen Motiven heraus auch immer mit Drohungen verhindern können, dass wissenschaftliche Positionen dargestellt werden können, dann ist das eine Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit an den Universitäten
Jörg Baberowski
Für den 14. Juli 2022 ist nun ersatzweise eine Diskussionsrunde geplant, in der man die Veranstaltung „aufgreifen und kontextualisieren und diskutieren“ möchte. Hierzu sollen auch Bundeswissenschaftsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und die Berliner Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote (Grüne) eingeladen werden. Die kritischen Jurist*innen dürfen nun selbstkritisch darüber sinnen, warum sie aus einer kleinen Biologievorlesung vor knapp 100 Zuhörern etwas sehr viel größeres gemacht haben. Dafür allein gilt ihnen allerdings unser aller Dank.
https://platform.twitter.com/widgets.js5. Wir entschuldigen uns und sorgen für eine angemessene Wiedergutmachung
— Frau Summer 🐦 (@Frollein_VogelV) 4. Juli 2022
6. Wir reden miteinander ohne Hass zu schreien
7. Studieren alle friedlich weiter
8. (Optional: lesen ein Biobuch oder gucken eine spannende BBC Naturdoku) https://t.co/3gnoLL18Nl
Weiterführendes:
LNDW } Lange Nacht der Wissenschaften
WELT } Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren (Kommentar u.a. von Marie Vollbrecht)
FAZ } Gecancelter Vortrag : Humboldt-Uni ist Namen nicht wert
FR } Vortrag von Biologin abgesagt
WELT } „Bashing, Boykott, Gewalt“ – Hochschulverbands-Präsident kritisiert Vortrags-Absage
NZZ } Debatte um Transsexualität: Berliner Universität verhindert Vortrag von Biologin
BZ } Nach Absage: Wissenschaftsministerin rügt Humboldt-Universität
inforadio } Professor zu Vortragsabsage: „Deutungsvielfalt wird hier gefährdet“
BZ } Vortrag abgesagt: So redet sich der Präsident der Humboldt-Uni raus
BILD } Nach umstrittener Absage: Nachholtermin für HU Geschlechtervortrag
RBB } Absage wegen Sicherheitsbedenken Humboldt-Uni will umstrittenen Vortrag über Geschlechter nachholen
Netzwerk Wissenschaftsfreiheit } Pressemitteilungen:
Pressemitteilung, 3. Juli 2022
Mit großer Besorgnis müssen wir feststellen, dass die Wissenschaftsfreiheit an den Berliner Hochschulen und Universitäten immer häufiger missachtet wird. So werden Vorträge wie der von Marie-Luise Vollbrecht wegen angeblicher Transfeindlichkeit abgesagt, wobei der Vorwurf durch nichts gerechtfertigt ist; dies unter dem Vorwand von Sicherheitsbedenken, wodurch man Grundrechte in das Belieben von Gewalttätern stellt. Professoren werden durch Universitätsleitungen angegriffen, indem man versucht, ihnen Erklärungen unter ihrer Affiliation, welche allgemein üblich sind, zu verbieten. Gremien wie die Asten versuchen offen, Wissenschaftler aufgrund ihrer Auffassungen zu vertreiben und ihre Karriere zu beenden. Andere Wissenschaftler werden regelmäßig bedroht und beleidigt. Zahlreiche Fälle dieser Art sind in unserer Dokumentation aufgeführt und belegt. Diese Tendenzen stellen die Wissenschaftsfreiheit an Berliner Hochschulen und Universitäten nicht nur im Einzelfall, sondern grundsätzlich in Frage. Wir fordern die Senatsverwaltung auf, ihrer grundrechtlichen Schutzpflicht zugunsten der Wissenschaftsfreiheit nachzukommen und derartige Vorfälle künftig zu unterbinden
ajk } Statement:
Der Arbeitskreis kritischer Jurist*innen (akj) hat am 30.06. eine Kundgebung vor dem Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin angemeldet. Der Protest richtete sich dagegen, dass im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaft einer in der Vergangenheit durch transfeindliche Positionen aufgefallenen Doktorandin, Marie-Luise Vollbrecht, eine Bühne für ihre Thesen zum Thema Geschlecht geboten werden sollte. Am 02.07. gegen Mittag sagte dann die Verwaltung der HU den Vortrag von Vollbrecht kurzfristig ab und begründete die Absage damit, dass die Kontroverse drohe, die anderen Veranstaltungen zu überschatten. […].
HU } Stellungnahme
Am 2. Juli 2022 fand nach zwei Pandemie-Jahren endlich wieder eine Lange Nacht der Wissenschaften statt, die seit mehr als 20 Jahren von vielen Wissenschaftseinrichtungen in Berlin ausgestaltet und organisiert wird. Auch an der Humboldt-Universität haben sich zahlreiche Mitglieder für dieses „Fest der Wissenschaft“ engagiert und Vorträge, Workshops und Ausstellungen vorbereitet und organisiert. Der Vortrag „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht: Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ musste im Interesse der Gesamtveranstaltung Lange Nacht der Wissenschaften abgesagt werden. Grund dafür waren Proteste gegen die Vortragende, die wegen ihrer Mitarbeit an einem Artikel in der „Welt“ Anfang Juni massiv in die öffentliche Kritik geraten ist. […]
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