
Naht ein neuer Historikerstreit? Der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) hat in Kooperation mit dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) zum 52. Historikertag eingeladen. Mehr als 3.000 Historiker folgten der Einladung unter dem Thema „Gespaltene Gesellschaften“ nach Münster. Dieses Jahr sollte es aber nicht allein bei Foren, Vorträgen, Podiumsdiskussionen und weiteren wissenschaftlichen Veranstaltungen bleiben. Dem hinkenden Vergleich mit den oft zitierten „Weimarer Verhältnissen“ zum Trotz, sah man sich aufgrund „derzeit maßlose[r] Angriffe auf die demokratischen Institutionen“ gezwungen, per Resolution Stellung zu beziehen. Doch daran entzündete sich Streit.
In der Resolution des VHD „zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie“ gruppieren sich die Hauptforderungen wie folgt:
Für eine historisch sensible Sprache, gegen diskriminierende Begriffe
Für parlamentarische Demokratie und pluralistische Streitkultur, gegen Populismus
Für ein gemeinsam handelndes Europa, gegen nationalistische Alleingänge
Für Humanität und Recht, gegen die Diskriminierung von Migranten
Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, gegen den politischen Missbrauch von Geschichte
Das Für und Wider in den Forderungen kann über die eigentliche Intention nicht hinwegtäuschen. Zu einseitig offenbaren sich die ergänzten Beispiele und ausformulierten Details. Die Einwände vor Ort, man sollte die Resolution entweder allgemeiner halten oder doch weitere Extreme (Tenor: Gefährdungen der Demokratie) aufzunehmen, scheiterten mit dem Hinweis man müsse „jetzt hier was gegen rechts tun“ und könne sich „Ausgewogenheit nicht leisten“. Ebenso verwarf man den Hinweis auf eine geheime Wahl, was zwar die Legitimation erhöht aber womöglich auch die notwendige Zustimmung vermindert wenn nicht gar verhindert hätte.
Der Historiker Peter Hoeres, selbst bis 2014 im Ausschuß des VHD aktiv, kritisierte die offensichtliche Unausgewogenheit der Resolution im Deutschlandfunk:
„Die ganze Resolution ist unausgewogen. Sie nimmt überhaupt nicht ins Auge, dass wir eine gegenseitige Aufschaukelung haben von links und rechts. Während die Resolution verabschiedet wurde, wurden vor den Toren denunziatorische Flugblätter gegen einen Kollegen, gegen Baberowski verteilt, und so was kommt überhaupt nicht in den Blick. Ebenso bei der Entgrenzung der Sprache, wenn Sie daran denken, wie häufig mit Wörtern wie „Nazi“ oder „Rassist“ um sich geschlagen wird.“

Patrick Bahners fragt die Historikerzunft in der FAZ rhetorisch, inwiefern ihre politische Wortmeldung durch die Freiheit der Wissenschaft gedeckt ist und antwortet ihnen zugleich mit einem historischen Wink:
Machen die Historiker nicht von ihrer Unabhängigkeit Gebrauch, indem sie sich politisch zu Wort melden? Aber diese Unabhängigkeit, verstanden als Freiheit der Wissenschaft, hat auch Voraussetzungen auf der Innenseite der wissenschaftlichen Selbstorganisation. Man muss sich über den Status wissenschaftlichen Wissens klar sein, darüber, welche Art von Geltung es beansprucht. Aus der prinzipiellen Vorläufigkeit dieses Wissens ergibt sich die wissenschaftliche Variante jener Demut in der Kommunikation unter den gesellschaftlichen Subsystemen, zu der sich Schäuble als Staatsrepräsentant für die Politik bekannte. Otto Gerhard Oexle, der 2016 verstorbene Direktor des abgewickelten Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen, war acht Jahre lang Schriftführer des Historikerverbands. Er vertrat mit Verve die von ihm aus den Weltanschauungskämpfen der Epoche um 1900 hergeleitete Auffassung, dass die Wissenschaft mit ihren Erkenntnismitteln nicht das Zeug zu einem moralischen und politischen Lehramt habe. Ein solches Wissenschaftsverständnis hat in Vorstand und Ausschuss des Verbands offenbar keinen Sprecher mehr.
Johan Schloemann erinnert sich in der Süddeutschen an die all zu aufdringliche Umsetzung des Tagungsthemas im Zuge „pluralistischer Streitkultur“ und „kritischer Auseindersetzung“:
Und es gab Streit darüber, ob die Historiker und Geschichtslehrer eigentlich kollektiv moralische Appelle gegen die Radikalisierung verkünden sollen, in Form von öffentlich wohl eher wirkungslosen Resolutionen. Oder ob sie besser beim Ideal wissenschaftlicher Objektivität bleiben und die historische Erkenntnis sowie das kritische Handwerkszeug beisteuern, das man dann gegebenenfalls für die politische Debatte gebrauchen kann. […]
In Münster, wo sich über vier Tage Tausende Wissenschaftler trafen, war allerdings gelegentlich zu beobachten, dass in der überwiegend liberalen Akademikerblase manche „nach Chemnitz“ in den Redeformen und den Diskussionsformaten exakt diejenige hektische, aufgeregte Zuspitzung übernehmen, die sie den Rechtspopulisten empört attestieren. In diese Falle, die aus der allgemeinen Debatte bekannt ist, sollten habilitierte Archiv- und Quellenexperten und metikulöse Historiografen nicht tappen. Deswegen insgesamt von einem Hysterikertag zu sprechen, wäre dann allerdings auch übertrieben zugespitzt.
Immerhin: Der Historikertag war allenfalls dezent hyterisch. In jedem Fall war er aber „historisch“.
Weitergehende Informationen:
Historikertag } Münster 2018
Historikerverband } Resolution des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie
Forschung & Lehre } Historiker: Vergleich mit „Weimarer Verhältnissen“ ist schief
Tagesspiegel } Deutscher Historikertag in Münster: Raus aus der Komfortzone
FAZ } Resolution des Historikertags: Die Lehrer Deutschlands
Süddeutsche } Gesellschaftsdebatte: Der Duft der Anderen
Deutschlandfunk } Aus den Feuilletons: Gegen die Politisierung von Geschichte
Welt } Wie politisch darf ein Historikerverband sein?
FAZ } Resolution von Historikertagen: Gegen Gruppendruck und Bekenntniszwang
ACH GUT } Resolution des Historikertages: “Brav wuff machen”
CICERO } Deutscher Historikertag – Deutungshoheit statt Argumentation}
Globkult } Der deutsche Historikertag und seine guten Absichten für die Zukunft
Deutschlandfunk } Einmischung in politische Debatten durch Historiker Hoeres: Verabschiedete Resolution ist unausgewogen
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